"Ich habe keine Worte für das, was ich dort gehört habe."
Marlene Lufen spricht hier über ihre Beweggründe, Emotionen und über ihre Dokumentation.
1. Vor kurzem haben Sie sich persönlich geoutet – warum jetzt nach über 20 Jahren? Was waren Ihre Beweggründe?
Marlene Lufen: „Mich umtreibt seit vielen Jahren, dass die Problematik rund um sexuelle Gewalt völlig falsch wahrgenommen und öffentlich entsprechend dargestellt wird. Im Prinzip hat fast jede Frau eine Story dazu und leider hat jede siebte eine Vergewaltigung erlebt. In privaten Gesprächen, im Fernsehen und in Zeitungen wird jedoch bei fast jedem Fall stets die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Frau sich die Geschichte nur ausgedacht hat. Ja, das gibt es, aber im Vergleich zu den fünf Millionen Frauen, die ihre Vergewaltigung verschweigen, ist dieser Anteil aberwitzig gering. Und genau wegen dieses möglichen Vorwurfs entscheidet sich fast jedes Opfer, einfach den Mund zu halten.“
2. Wie waren die Reaktionen darauf?
Lufen: „Zum Zeitpunkt meines Posts war das Thema gerade sehr präsent durch den Gina-Lisa-Fall. Ich dachte mir schon, dass die Reaktionen heftig ausfallen werden. Von der Wucht der Kommentare und Reaktionen war ich dann allerdings überwältigt. Ich habe kurz überlegt, ob ich meinen Post einfach lösche und mich so auch den Anfeindungen nicht mehr stellen muss. Aber genau das wäre wieder die übliche Schutzhaltung und würde bedeuten, dass alles so weiter geht. Es MUSS aber endlich die Wahrheit gesagt werden: dass sexuelle Gewalt nicht eine große Ausnahme und ein Einzelschicksal wohlmöglich von Frauen ist, die aus schwierigen Verhältnissen kommen oder „es drauf angelegt haben“. Es betrifft Deine Freundin, Deine Kollegin, vielleicht Deine Chefin. Und Du weißt es nur nicht.“
3. Seit ein paar Wochen sind Sie nun unterwegs für die SAT.1-Doku „Vergewaltigt – Warum Millionen Frauen schweigen“. Inwieweit beinhaltet der Dreh Ihre Vergangenheit?
Lufen: Meine Geschichte ist nur der Auslöser für die Recherche und diesen Film. Erzählt werden vor allem die Schicksale von Frauen, die Schreckliches erlebt haben. Eine ist von ihrem Freund zuhause tagelang vergewaltigt worden – nur weil er eifersüchtig war. Andere haben Missbrauch in der Familie erlebt seit sie kleine Kinder waren. Zum Teil habe ich unerträgliches gehört, was mich tagelang nicht hat schlafen lassen.“
4. Was hat Sie beim Dreh am meisten bewegt?
Lufen: „Ich hatte mich bei den Drehs auf intensive Gefühle eingestellt und auch darauf, dass es hart wird, sich solche Geschichten anzuhören. Was ich allerdings von einigen erzählt bekam übersteigt alles, was ich mir bis dahin vorstellen konnte. Es sind Schicksale von Frauen die schon als kleine Mädchen von ihren Familien, vom Bruder, den Eltern und Großeltern, wie ein Stück Fleisch benutzt wurden. Ich habe keine Worte für das, was ich dort gehört habe und wir werden sehr behutsam nachzeichnen, was uns anvertraut wurde.
Übrigens wurde mir noch etwas klar in den letzten Wochen: Die Opfer speziell von Kindesmissbrauch berichten, dass sogar Ärzte sich abwehrend verhalten, wenn sich die Frauen dann doch überwinden, ihre Geschichte anzudeuten (meist mit der Bitte verbunden, behutsam zu untersuchen). ‚Oh, bitte, gehen sie nicht ins Detail, das will ich gar nicht hören. Das ist ja furchtbar.‘ Und auch mein erster Reflex war innerlich so, um ehrlich zu sein. Was daraus entsteht ist große Einsamkeit und das, nach so einem Martyrium. Das bricht einem das Herz.“
5. Was sind die Schwerpunkte der Doku? Welche Geschichten werden dort erzählt?
Lufen: „In unserer Doku wollen wir versuchen zu verstehen, warum so viele Frauen schweigen und sich fast alle Opfer entscheiden, nicht zur Polizei zu gehen. Die Hälfte erzählt es ihr ganzes Leben nicht mal der besten Freundin. Und wir wollen die Problematik so darstellen, wie sie in Deutschland 2016 ist! Nicht dramatischer aber eben auch nicht weichgespült und glatt gebügelt, damit sie leichter zu „verdauen" ist.“
6. Was raten Sie Frauen, denen so etwas passiert?
Lufen: „Der Appell der Polizei (die in den vergangenen Jahren viel Aufklärungsarbeit bei den eigenen Beamten geleistet hat) ruft natürlich dazu auf, die Täter anzuzeigen, damit die Dunkelziffer immer kleiner wird und Täter vielleicht gefasst werden. Die Frauen aus der Selbsthilfegruppe, die ich besucht habe, würden diesen Rat niemals geben. Deswegen habe ich selbst schließlich mein Erlebnis bei der Polizei zur Anzeige gebracht! So kann auch der Zuschauer erleben, wie so eine Befragung abläuft und worauf man sich gefasst machen muss, wenn man sich dazu entschließt.“