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"Das war purer Sadismus"

Schwerer Verdacht: Übergriffe in SOS-Kinderdorf

  • Veröffentlicht: 08.10.2021
  • 14:18 Uhr
  • dpa
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© dpa

Ein SOS-Kinderdorf soll eine Zuflucht sein, ein sicherer Ort für Kinder, die es im Leben schwerer haben als andere. Genau dort aber sollen diejenigen, die Schutz suchten, zu Opfern geworden sein. Ein Bericht hat nun Erschreckendes zu Tage gefördert.

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Ein fünf Jahre altes Mädchen allein in einen dunklen Keller gesperrt. Ein Junge, der in Hausschuhen schlafen muss, weil seine Dorfmutter sie ihm mit Sekundenkleber an den Füßen befestigt hat. Kinder, die sich nackt begutachten lassen müssen, die mit einer erwachsenen Frau duschen und sie eincremen müssen. Eine Studie über Übergriffe auf Kinder hat erschreckende Vorwürfe gegen zwei Dorfmütter eines SOS-Kinderdorfes in Bayern zu Tage gefördert.

"Es geht vor allem um das, was man "schwarze Pädagogik" nennt und wie sie eher in den 1960er Jahren verbreitet war als Anfang der 2000er Jahre", sagt der Psychologe und Missbrauchsexperte Heiner Keupp der Deutschen Presse-Agentur in München. Denn die Vorwürfe beziehen sich nicht etwa auf die dunkle Vergangenheit, sondern auf die jüngere: auf die Jahre 2000 bis 2015.

Keupp, der auch schon den Missbrauchsskandal im katholischen Kloster Ettal wissenschaftlich aufgearbeitet hat, hat die Studie im Auftrag des Kinderdorfvereins erstellt. Er hat mit Betroffenen gesprochen - und auch mit einer der beschuldigten Frauen. Am Freitag wurde eine Zusammenfassung der Studie auf der Website von SOS Kinderdorf veröffentlicht. Von einem "Klima der Angst" ist darin die Rede und von einer eingeforderten "Unterwerfungsbereitschaft" der Kinder.

Wenn sie verbotenerweise heimlich beim Essen tranken, so heißt es in dem Bericht, habe die Dorfmutter sie an den Haaren gepackt und ihre Köpfe zusammengeschlagen. Bei kleinen Regelverstößen sei ihnen die Matratze weggenommen worden - so dass sie auf dem Lattenrost schlafen mussten. Und wenn sie morgens nicht sofort aufstanden, sollen sie kaltes Wasser ins Gesicht bekommen haben.

Ehemalige Bewohner, so sagt Keupp der dpa, hätten berichtet, dass eine der Frauen das Essen, das die Kinder nicht mochten und auf dem Teller ließen, im Mixer pürierte und sie zwang, das Gemisch zu trinken. "Das war purer Sadismus", sagt Keupp. Die Kinder durften demnach morgens auch nicht aufs Klo gehen, weil die Toilette neben dem Zimmer der Dorfmutter lag und sie nicht gestört werden wollte. Sie haben dann Bettflaschen bekommen.

"Kindeswohlgefährdenden Grenzüberschreitungen"

Von "kindeswohlgefährdenden Grenzüberschreitungen" ist in einer Mitteilung des SOS-Kinderdorfes die Rede. Keupp spricht im Fall der einen Beschuldigten deutlicher von Missbrauch: "Die Kinder mussten an den Wochenenden mit ihr gemeinsam duschen, jeweils zwei Jungen und dann zwei Mädchen nackt in einer engen Duschkabine und danach mussten sie die nackte Kinderdorfmutter eincremen", sagt Keupp. "Morgens - wenn sie noch im Bett lag – mussten die Kinder nackt an ihr vorbeidefilieren, damit sie sehen konnte, ob sie sich auch gut gewaschen haben. Die Schambereiche wurden besonders kontrolliert. Einem Mädchen soll sie dabei in die Brustwarzen gezwickt haben. Das sind sexuelle Übergriffe gegen die Kinder."

Die Organisation SOS-Kinderdorf, die sich zu einem großen Teil aus Spenden finanziert, will nach eigenen Angaben vor allem Kindern helfen, deren Eltern wegen Armut nicht für sie sorgen können oder die familiäre Gewalt erleben.

"Ich bedauere zutiefst, dass den uns anvertrauten Kindern Leid widerfahren ist. Im Zentrum des Handelns von SOS-Kinderdorf stehen Kinderschutz und die Stärkung von Kinderrechten. Deshalb bin ich erschüttert, dass es in einer Einrichtung des SOS-Kinderdorfvereins dazu kommen konnte", lässt die Vorstandsvorsitzende des SOS-Kinderdorf e.V., Sabina Schutter, sich in einer Mitteilung zitieren.

Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat nach einer Strafanzeige inzwischen Ermittlungen aufgenommen, wie ein Sprecher der Behörde der Deutschen Presse-Agentur in München sagte. Eine Sprecherin von SOS-Kinderdorf erklärte, die Organisation wisse von dieser Anzeige und sei im Austausch mit dem Betroffenen, der sich zuvor an eine extra bei den SOS-Kinderdörfern eingerichtete Anlaufstelle gewandt habe und dort beraten worden sei.

"Wir nehmen jeden Vorwurf pädagogischer Grenzverletzung oder Unrechtshandlung sehr ernst und wollen als Organisation aus Fehlern lernen und uns weiterentwickeln", betont die Hilfsorganisation. "Leider ist es offenbar nicht gelungen, die etablierten Standards und Richtlinien in Bezug auf Kinderschutz und die Qualität der pädagogischen Arbeit lückenlos in den Alltag der untersuchten Kinderdorffamilien umzusetzen."

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Nur die Spitze des Eisbergs?

Allerdings ist das, was Keupp mit seiner Studie nun an die Öffentlichkeit gebracht hat, seiner Einschätzung nach womöglich nur die Spitze des Eisbergs. "Ich bin bei meinen Recherchen auf Hinweise auf wirklich massiven Missbrauch und sexuelle Gewalt in den 1960er und 1970er Jahren gestoßen", sagt er. Es gebe auch "Hinweise auf Suizide ehemaliger Bewohner, die mit Missbrauch im Zusammenhang stehen können". Ein Kinderdorfleiter, der in den 70er Jahren auffällig geworden sei, sei in eine andere Einrichtung versetzt worden. "Und auch da gibt es inzwischen Meldungen von Betroffenen im fortgeschrittenen Alter, die als Kinder schweren Missbrauch erlebt haben."

Nach Angaben des Kinderdorfvereins haben sich seit 2010, seit der Einführung einer internen Anlauf- und Monitoringstelle für kindeswohlgefährdende Grenzüberschreitungen, insgesamt 52 ehemalige Betreute gemeldet. Bislang sei in 21 Fällen auch Geld gezahlt worden, sagt eine Sprecherin von SOS Kinderdorf. Anerkennungszahlungen "bei Missbrauchserfahrungen".

Laut einer Erhebung der "SOS Kinderdörfer Weltweit" sollen betreute Kinder und Jugendliche in 20 Ländern Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch geworden sein. Es gebe 22 untersuchte Fälle in 50 Einrichtungen zwischen den 90er Jahren und der jüngsten Vergangenheit, hatte der Sprecher der Organisation, Boris Breyer, im Mai mitgeteilt.

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